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Temu unter Druck: Billigpreise, Datenrisiken und rechtliche Vorwürfe

Temu unter Beschuss: Wenn Billigpreise zum Risiko für Verbraucher werden

Der chinesische Onlinehändler Temu ist in den letzten zwei Jahren zu einem globalen Phänomen geworden. Mit grell beworbenen Billigpreisen, aggressiven Rabattaktionen und dem Versprechen, „wie ein Millionär zu shoppen“, hat sich die Plattform rasant in den europäischen Markt gedrängt – auch in Deutschland. Doch hinter der bunten Oberfläche des vermeintlichen Shopping-Paradieses wachsen die Zweifel. Verbraucherschützer, Behörden und Handelsverbände werfen Temu vor, mit manipulativen Methoden zu arbeiten, europäische Gesetze zu umgehen und Verbraucherrechte systematisch zu verletzen.

Ein Boom mit System

Temu gehört zum chinesischen Technologiekonzern PDD Holdings, der auch die Shopping-App Pinduoduo betreibt, die in China für extreme Preiskämpfe und fragwürdige Marketingstrategien berüchtigt ist. Seit Temus Europastart im Jahr 2022 erlebt die Plattform ein explosives Wachstum: Millionen Downloads, aggressives Influencer-Marketing und Werbespots in den sozialen Medien sorgen für eine enorme Reichweite. Der Erfolg beruht auf einem scheinbar einfachen Prinzip: Alles ist billig, sofort verfügbar und mit einem Klick bestellt. Doch dieser Boom hat Schattenseiten.

Vorwürfe: Manipulation, Druck und Irreführung

Am 22. September 2025 hat das österreichische Sozialministerium über den Verein für Konsumenteninformation (VKI) eine Verbandsklage gegen Temu beim Handelsgericht Wien eingereicht. Die Vorwürfe sind gravierend. Laut Klageschrift verstößt Temu gegen das Gesetz gegen unlauteren Wettbewerb und den europäischen Digital Services Act (DSA). Das Unternehmen soll mit manipulativen Designs, irreführenden Preisangaben und psychologisch ausgefeilten Verkaufsmechanismen das Kaufverhalten seiner Kundinnen und Kunden gezielt beeinflussen.

Konkret geht es um Techniken, die in der EU als „Dark Patterns“ bekannt sind. Temu setzt beispielsweise Glücksräder, Highscore-Tabellen und virtuelle Geschenke ein, um Nutzer dazu zu verleiten, länger in der App zu bleiben oder persönliche Daten preiszugeben. Außerdem erzeugen Countdown-Timer und Pop-ups künstlichen Zeitdruck. Nutzer sollen glauben, dass Angebote bald verfallen oder ihnen von anderen Kunden „weggeschnappt“ werden. Wer ein Konto anlegt, gibt in der Regel umfangreiche Einwilligungen zur Datennutzung, oft ohne es zu merken. Besonders kritisiert wird, dass sich ein Konto mit wenigen Klicks eröffnen, aber nur mit Mühe löschen lässt: Laut dem VKI sind sieben Schritte und eine Wartezeit von einer Woche nötig.

Auch Rabattaktionen stehen im Fokus: Viele Preisnachlässe sind irreführend, da die angegebenen „Vorher“-Preise nie existierten. Und obwohl Temu mit kostenloser Rückgabe wirbt, sind Rücksendungen nach China in der Praxis aufwendig, teuer und oft kaum durchführbar.

Wie seriös ist Temu wirklich?

Rechtlich gesehen ist Temu eine in Irland registrierte Tochter von PDD Holdings und somit Teil des europäischen Binnenmarktes. Faktisch wird die Plattform jedoch aus China gesteuert, wo sich auch die Datenverarbeitung und Logistik befinden. Dieser Spagat zwischen EU-Adresse und asiatischer Infrastruktur führt zu erheblichen Transparenzproblemen. Kunden wissen oft nicht, wer genau ihr Vertragspartner ist.

Verbraucherschützer sprechen daher von „Scheinseriosität“: Nach außen erfüllt Temu formale EU-Vorgaben, im Hintergrund agiert das Unternehmen jedoch nach chinesischen Standards. Besonders problematisch ist die Datensicherheit: Es gibt Berichte und Beschwerden, denen zufolge Temu Zugriffsrechte auf Smartphones anfordert, die über das für einen Online-Einkauf notwendige Maß hinausgehen. Dazu gehören Standort, Geräteinformationen und Kontakte. Zudem hat die europäische Datenschutzorganisation noyb (None of Your Business) Beschwerden gegen Temu eingereicht, da die Plattform mutmaßlich unrechtmäßig europäische Nutzerdaten nach China transferiert.

Was ist der Haken bei Temu?

Der Haken liegt im Geschäftsmodell selbst. Temu kombiniert psychologische Verkaufsstrategien mit systematischer Intransparenz. Die App ist darauf ausgelegt, Impulskäufe zu fördern, beispielsweise durch Spielmechanismen, Ranglisten oder tägliche „Belohnungen“. Wer häufiger einkauft, erhält Bonuspunkte oder virtuelle Münzen, die angeblich Rabatte bringen sollen, de facto aber dazu dienen, das Kaufverhalten zu steuern.

Hinzu kommt, dass viele Artikel von anonymen Drittanbietern verkauft werden, deren Identität und Produktionsbedingungen kaum überprüfbar sind. Käuferinnen und Käufer haben also oft keine Ahnung, woher die Ware stammt, ob Sicherheitsstandards eingehalten wurden oder ob Kinderarbeit ausgeschlossen ist. Dies betrifft insbesondere elektronische Geräte, Kosmetika und Textilien, bei denen EU-Sicherheitsnormen eigentlich verpflichtend wären.

Warum sind die Preise bei Temu so niedrig?

Die Preise sind so niedrig, weil Temu viele Zwischenhändler umgeht und Produkte direkt von Fabriken in China versendet. Die Arbeitskosten sind dort deutlich geringer und die Qualitätskontrollen minimal. Zusätzlich nutzt Temu Zoll- und Steuerlücken: Viele Pakete werden unterhalb der 150-Euro-Zollgrenze deklariert oder mit einem unrealistisch niedrigen Warenwert angegeben, sodass keine Einfuhrabgaben fällig werden.

Kritiker sprechen in diesem Zusammenhang von einem „strukturellen Steuerdumping“, das europäischen Händlern die Wettbewerbsfähigkeit entzieht. Während lokale Unternehmen Umsatzsteuer, Zoll und Umweltauflagen erfüllen müssen, umgehen internationale Plattformen diese Pflichten oft durch logistische Tricks. Der Präsident des österreichischen Handelsverbands bezeichnet Temu deshalb als „Musterbeispiel für die Schwächen europäischer Durchsetzungspolitik“.

Wie wird bei Temu bezahlt – und wo lauern Risiken?

Die angebotenen Bezahlmöglichkeiten wirken vertraut: Kreditkarte, PayPal, Klarna und Sofortüberweisung. Doch bei Problemen zeigt sich die Distanz zum Anbieter. Wer eine Rückerstattung beantragt, muss oft mehrere Wochen auf eine Antwort warten. Manche Kunden berichten von Stornierungen ohne Rückzahlung oder von fehlender Kommunikation. Da Temu keine Niederlassung in Deutschland hat, ist die Durchsetzung von Ansprüchen mühsam.

Zudem besteht das Risiko, dass Zahlungsdaten und persönliche Informationen nicht ausreichend geschützt sind. Zwar beteuert Temu, die europäische Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) einzuhalten, doch eine unabhängige Prüfung, die das bestätigt, gibt es bislang nicht.

Warum ist Temu strafbar – und was sagen die Behörden?

Die österreichische Klage sieht in Temus Geschäftsmodell eine Verletzung mehrerer Gesetze. Im Zentrum steht neben dem Wettbewerbsrecht vor allem der Digital Services Act: Dieser EU-weite Rechtsrahmen verpflichtet Online-Plattformen, Nutzer vor manipulativen Inhalten und versteckter Werbung zu schützen. Temu soll dagegen verstoßen haben, indem die App deren Nutzer bewusst in die Irre führt und wesentliche Informationen über Verkäufer oder Produktqualität verschweigt.

Ziel des Verfahrens ist es, gerichtliche Auflagen oder Unterlassungserklärungen zu erreichen, die dann EU-weit Wirkung entfalten könnten. In Deutschland gibt es zwar noch keine eigene Klage, doch Verbraucherschutzorganisationen beobachten das Verfahren aufmerksam. Sollte das Wiener Gericht zugunsten der Kläger entscheiden, wäre das ein Präzedenzfall und möglicherweise der Startschuss für ein europaweites Vorgehen gegen Temu und ähnliche Anbieter.

Wie lange dauert die Lieferung und was können die Kunden erwarten?

Temu wirbt mit Lieferzeiten von sieben bis 15 Tagen. In der Praxis schwankt das jedoch stark: Während manche Bestellungen nach wenigen Tagen eintreffen, dauert es bei anderen mehrere Wochen. Ursache hierfür sind häufig Zollprüfungen oder fehlerhafte Deklarationen. Zudem werden viele Sendungen aufgesplittet, da jedes Produkt von einem anderen Verkäufer stammt.

Qualitätsprobleme sind ebenfalls verbreitet: So fällt Kleidung anders aus als angegeben, Elektronik funktioniert nicht oder Produkte entsprechen nicht den Beschreibungen. Rücksendungen sind kompliziert, da sie meist nach China erfolgen müssen. Zwar verspricht Temu eine „kostenlose Rückgabe“, doch Kunden berichten, dass sie entweder lange auf Rückerstattungen warten müssen oder gar keine erhalten.

Was spricht grundsätzlich gegen Temu?

Neben rechtlichen und ökologischen Problemen steht Temu auch für eine bedenkliche Entwicklung des Onlinehandels. Das Konzept zielt auf kurzfristige Gewinne und Massenkonsum ab, ohne Rücksicht auf Nachhaltigkeit, faire Arbeitsbedingungen oder die lokale Wirtschaft zu nehmen. Der extreme Preisdruck erzeugt eine Wegwerfmentalität, bei der Produkte als Verbrauchsmaterialien und nicht als Gebrauchsgegenstände betrachtet werden.

Auch ethisch ist das Modell problematisch: Während Temu in Europa Milliardenumsätze erzielt, bleibt der Großteil der Wertschöpfung in China. Lokale Händler verlieren Kundschaft und die Verbraucher werden zu Datenspendern, deren Aufmerksamkeit in Umsatz umgerechnet wird.

Der Preis der Verlockung

Temu steht beispielhaft für die Herausforderungen der globalisierten Digitalwirtschaft. Die Plattform verdeutlicht, wie leicht sich Konsumenten durch Rabatte, Spielmechanismen und psychologische Tricks beeinflussen lassen und wie schwer es ist, Recht und Kontrolle über Grenzen hinweg durchzusetzen.

Der österreichische Vorstoß gegen Temu könnte ein Wendepunkt werden. Wenn Gerichte die Praktiken als unzulässig einstufen, müsste das Unternehmen sein Geschäftsmodell in der gesamten EU anpassen. Doch bis dahin bleibt Temu für viele Kundinnen und Kunden das, was sie längst spüren: ein schillerndes Versprechen, das auf den zweiten Blick teurer ist, als es scheint.